
„Vollkommenheit entsteht offensichtlich nicht dann, wenn man nichts mehr
hinzuzufügen hat, sondern wenn man nichts mehr wegnehmen kann.“
„Il semble que la perfection soit atteinte non quand il n‘y a plus rien à ajouter,
mais quand il n‘y a plus rien à retrancher.“
Antoine de Saint-Exupéry, Terre des Hommes (1939)







Mattis Øybø: Den siste overlevende er død
Norwegisch.
Forlaget Oktober 2021.
255 Seiten.
Den siste overlevende er død, zu Deutsch Der letzte Überlebende ist tot, ist der fünfte Roman des norwegischen Autors Mattis Øybø und 2021 bei Forlaget Oktober in Oslo erschienen. Ins Deutsche wurden Mattis Øybøs Werke bisher noch nicht übertragen.
Der 255 Seiten umfassende Roman setzt sich aus fünf Teilen – im Grunde fünf eigenständigen Kurzgeschichten – zusammen, die alle in der heutigen Zeit spielen, jedoch durch die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs, den Holocaust und die persönlichen Schicksale einiger Überlebender wie durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden sind.
Verhandelt wird hier unser Verhältnis zur Geschichte – wie wird sie interpretiert und erzählt, da niemand mehr aus eigener Erfahrung berichten kann? Was wird erinnert, was vergessen, welches sind die Auslegungen und Narrative, die mit der Zeit dominieren? Kommt es zu einem tieferen Verständnis oder zu stärkerer Mythenbildung?
Mattis Øybøs hochgelobter Roman war 2021 für den Brage-Preis und für den Preis des norwegischen Kultursenders NRK P2 nominiert. Von den norwegischen Zeitungen Adresseavisen und Dagsavisen wurde er als eines der fünf besten norwegischen Bücher des Jahres 2021 empfohlen.
Pressestimmen:
„Ein genialer Roman. Fünf fantastische Geschichten, die in der heutigen Zeit spielen, sind alle durch die Kriegserlebnisse des mysteriösen Isaak Meyer miteinander verbunden. […] Den Leser erwartet ein großartiges Leseerlebnis. […] Øybø schafft es hervorragend, Gegenwart und Vergangenheit nahtlos so zu verweben, dass die Spannung aus dem Mix zwischen kleinen und großen Ereignissen entsteht.“
Stein Roll, Adresseavisen
„In seinem für den Brage-Preis nominierten Roman zieht Mattis Øybø Verbindungslinien […], aus denen eine Geschichte über das Erinnern und Vergessen entsteht, über Auswirkungen und zeitliche Distanz, über Zusammenhänge, Isoliertheit und Gemeinschaft. Geschichte und Gegenwart verschmelzen zu einem ideenreichen, spannenden und flüssig zu lesenden Roman.“
Dagsavisen, Die fünf besten norwegischen Bücher des Jahres
„Messerscharf, gut durchdacht und professionell gemacht.“
Geir Pollen, Klassekampen
Übersetzungsprobe
Sie waren gerade mit den Einladungskarten beschäftigt, als das Handy klingelte. Er erhob sich, um das Gespräch anzunehmen, doch im selben Augenblick legte der Betreffende auf, und Tomas setzte sich wieder und nahm eine neue Karte vom Stapel. Auf dem Foto lächelte er sich selbst entgegen, einen Strohhut auf dem Kopf. Wo war das bloß aufgenommen worden? In Griechenland? Auf der Portugalreise letztes Jahr? Er wusste es nicht mehr.
„Freust du dich drauf?“, fragte Hanna.
„Nein“, sagte er.
Sie lachte. Aus dem Radio drang der abgehackte Jingle einer Nachrichtenmeldung an sein Ohr.
„Aber trotzdem bin ich froh, dass wir das machen“, fügte er hinzu. „Klingt das unlogisch?“
„Du liebst mich eben“, sagte sie.
„Ja, wahrhaftig, das tue ich“, sagte er, und sie lachten beide, doch da begann das Handy von Neuem zu klingeln.
„Willst du nicht ‘rangehen?“
Tomas holte Luft und horchte auf die alberne Melodie. Den Klingelton hatte Ruth ihm eingestellt, eher aus Spaß, und er hatte ihn nicht geändert, um sie nicht zu kränken, was natürlich genauso albern war; sie war beinahe zwanzig und gerade von zu Hause ausgezogen.
Er stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab, um aufzustehen, doch da verstummte das Telefon erneut.
„Da hat sich bestimmt bloß jemand verwählt“, sagte Hanna.
Er versuchte, die Gereiztheit abzuschütteln. Er war doch in guter Stimmung.
„Kommt Askil auch?“, fragte er und zeigte auf den Umschlag in ihrer Hand.
„Und Tante Harriet“, antwortete Hanna. „Wir sind doch eine Familie. Wir halten zusammen.“
Eigentlich hatte er sich eine Feier im kleinen Kreis vorgestellt, mit etwa fünf bis sechs engen Freunden und natürlich mit Mattias und Ruth, aber die Liste war rasch länger geworden. Sie umfasste inzwischen vier seiner Kollegen mit Ehefrauen, Hannas Eltern und ihre 92-jährige Großmutter sowie, last but not least, ihre drei Schwestern und deren Männer. Hinzu kamen Andreas und Maggie aus London und dann noch Knut und Kjetil aus der Wohnung über ihnen, die eine Tochter in Ruths Alter hatten.
Erneut betrachtete er sein Porträt. Unter dem Strohhut schaute das graue Haar hervor, doch er sah gut aus. Jedenfalls hatte Hanna das gesagt, als sie das Bild auswählten. Über dem Foto stand: „Ob ihr‘s glaubt oder nicht, dieser Mann ist 64!“ Auch wieder so ein Ulk von Ruth. Aber erst jetzt fiel ihm auf, dass der Satz doppeldeutig war.
Natürlich war es eine Art Insider-Witz. Niemand feiert seinen 64. Geburtstag mit fast vierzig Gästen, aber wegen seines Schlaganfalls vor vier Jahren hatte Hanna beschlossen, alles nachzuholen.
„Ab jetzt wollen wir jeden Tag feiern, der uns bleibt“, hatte sie am Vorabend seines sechzigsten Geburtstags an seinem Krankenhausbett gesagt.
Manchmal dachte er, dass er sie gar nicht verdient habe. Manchmal dachte er, sie sei zu gut für ihn.
„Ich liebe dich.“
Er ließ die Karte sinken und sah sie an. Im Radio war gerade die Rede von Emmanuel Macron und Marine Le Pen und den französischen Präsidentschaftswahlen.
„Das ist die reine Wahrheit“, setzte er hinzu.
„Ich weiß“, antwortete sie, und erwiderte seinen Blick, und so saßen sie da und genossen die wohlige Versicherung ihrer gegenseitigen Liebe, als das Telefon von Neuem zu klingeln begann. Diesmal nahm er ab. Es war Mattias.
Nach wenigen Minuten legte Tomas auf.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Hanna.
Er nickte, zog den Stuhl heran und wollte berichten, was ihr Sohn gesagt hatte, doch als er das Handy auf den Küchentisch legte, bemerkte er, dass unter den entgangenen Anrufen auf dem kleinen Display noch eine ganz andere Nummer stand.
Er betrachtete die Zahlenfolge, und im selben Augenblick, als ihm einfiel, zu wem diese Zahlen immer gehört hatten – denn er hatte ihre Telefonnummer nie vergessen –, klingelte es erneut. […]
DIE KLEINE UND DIE GROSSE GESCHICHTE
„Hallo, Tomas.“
Er hörte sofort, dass sie es war. Zuerst die Nummer und dann die Stimme verbanden ihn wie durch eine dünne, stillgelegte Leitung wieder mit dem Leben, das einmal seines gewesen war.
„Milena?“
Hanna hob den Blick von dem Stapel mit den Einladungskarten.
Wie viele Jahre waren vergangen, seit er das letzte Mal mit ihr gesprochen hatte? Fünfzehn? Achtzehn? Nein, er war ihr doch noch einmal zufällig begegnet, in Stockholm, bei einem Empfang in der Botschaft vor – ja, wann war das noch? Vor sieben Jahren? An den Anlass erinnerte er sich nicht mehr. Es war vor seinem Schlaganfall gewesen, und sie hatten kaum ein Wort gewechselt.
„Lange nichts von dir gehört“, sagte er. „Wie geht es dir?“
Er sah Hanna an, hob die Hand und deutete Richtung Wohnzimmer. Dann verließ er die Küche. Dieses Gespräch musste er alleine führen.
„Mir geht‘s gut“, sagte sie. „Den Umständen entsprechend. Aber darüber können wir später reden. Ich habe eine Frage an dich. Das heißt, eine Bitte."
Er konnte hören, dass viel Zeit vergangen war. Ihre vornehme Östermalm-Sprechweise kam ihm noch geschliffener vor als früher. Als er sie damals in der Botschaft getroffen hatte, war ihm aufgefallen, wie gut sie aussah. Sie kleidete sich älter. Er hatte sie angelächelt und war auf sie zugegangen, um ihr genau das zu sagen, doch bevor er den Mund aufmachen konnte, sagte sie: „Glaub bloß nicht, dass ich dir verziehen hätte.“ Dann drehte sie sich auf dem Absatz um. Ließ ihn einfach stehen.
„Ich brauche dich“, sagte sie nun. „Nur für ein paar Tage, fünf vielleicht. Eine Woche höchstens.“
„Du brauchst mich?“
Er stand am Fenster. Unten auf der Straße erblickte er ein Paar beim Sonntagsspaziergang an diesem frostigen Frühlingsmorgen.
„Ich kann dich in Vingåker vom Bahnhof abholen. Von Oslo gibt es eine Direktverbindung.“
„Ich verstehe nicht …“
„Du warst doch damals dabei.“
„Milena. Wovon sprichst du? Wir haben uns immerhin jahrelang nicht gesehen.“
„Ich will den Film über meinen Vater fertigstellen“, sagte sie. [...]