
„Vollkommenheit entsteht offensichtlich nicht dann, wenn man nichts mehr
hinzuzufügen hat, sondern wenn man nichts mehr wegnehmen kann.“
„Il semble que la perfection soit atteinte non quand il n‘y a plus rien à ajouter,
mais quand il n‘y a plus rien à retrancher.“
Antoine de Saint-Exupéry, Terre des Hommes (1939)







Ingvild Solstad-Nøis: Eid
Norwegisch.
Forlaget Oktober 2019.
197 Seiten.
Eid ist die dritte Veröffentlichung der norwegischen Autorin Ingvild Solstad-Nøis, deren Werke bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Der Vorname der Protagonistin hat diesem Roman seinen Titel verliehen. Eid, aus deren Ich-Perspektive die Geschichte erzählt wird, ist eine Frau Anfang vierzig, die nach ihrer Scheidung gemeinsam mit ihrer 15-jährigen Tochter Alida auf eine kleine nordnorwegische Insel zieht, um dort ein neues Leben zu beginnen. Doch ihr Kontrollwahn und ihr Erzwingenwollen von Anerkennung und Freundschaften für sich und Alida führen in der kleinen Dorfgemeinschaft zu Problemen. Ihre Tochter entfernt sich immer weiter von ihr. Als Alidas Freundin Emma, die Eid ganz bewusst an sich zu binden versucht, einen Selbstmordversuch unternimmt, wird Eid klar, dass sie vor allem loslassen muss.
Die erzählte Zeit erstreckt sich über einen Zeitraum von drei bis vier Monaten zwischen November und März. Die stimmungsvollen Schilderungen einer nordnorwegischen Insel entfalten ihren ganz eigenen Reiz. Naturbeschreibungen und die immer wiederkehrende Lichtmetaphorik und -symbolik nehmen in diesem Buch großen Raum ein, entsprechend der Bedeutung von Licht und Dunkelheit nördlich des Polarkreises. Nach einer langen Phase der Dunkelheit nimmt das Licht am Ende der Geschichte wieder zu, steht Ostern vor der Tür.
Trotz der ernsten Thematik driftet der Roman nie ins Lamentierende ab; der unterschwellig selbstironische Ton sorgt für ein Lesevergnügen der ganz eigenen Art. Solstad-Nøis‘ Sprache ist gekennzeichnet durch einen sehr präzisen und treffsicheren Stil, genaue Beschreibungen, innere Monologe und viele pointierte Dialoge, die dem Geschehen eine große Unmittelbarkeit und Lebendigkeit verleihen.
Pressestimmen:
„Solstad-Nøis schreibt zeitgemäß und pointiert über die manchmal allzu große Kluft zwischen unserer Wunschvorstellung vom Leben und dem, wie es wirklich ist ... ein ehrlicher und aktueller Roman ...“
Hanne Kristin Wolden, Klassekampen
„Die Autorin arbeitet die Ambiguität der Protagonistin sehr gut heraus – die Risse in der Fassade, ihre Verluste und die Erkenntnis dieser Verluste – und lässt ein nuanciertes und facettenreiches Bild einer komplexen Persönlichkeit entstehen, die trotz all ihrer Schwächen auch große Stärke beweist … Das Ende bleibt offen …“
Sigmund Jensen, Stavanger Aftenblad
„Solstad-Nøis ist eine hervorragende psychologische Beobachterin mit einem Blick für die kleinen und verräterischen Details in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Das ist die große Stärke dieses Buches, ebenso wie die distanzierte und hintergründige Ironie … Ein wunderbar geschriebener Roman über die Beziehung zwischen einer Mutter und einer pubertierenden Tochter und die Verwerfungen, die entstehen, wenn die Mutter die Kontrolle verliert.“
Oddmund Hagen, Dag og tid
Übersetzungsprobe
Die Insel wirkt auf friedliche Weise in sich gekehrt, als sie in dem spärlichen Tageslicht vor uns auftaucht. Frühes Novemberlicht über der Brücke, kalt, bläulich, Ruhe. Häuser liegen in kleinen Haufen verstreut bis dicht hinauf an den Waldrand. Laternenpfähle, die sich zwischen den Bäumen in Schlangenlinien bergauf ziehen, lassen eine Loipe erahnen. Am Rande eines kleinen Zentrums nimmt eine Kirche Gestalt an. Übersichtliche, durchlässige Schlichtheit, anders als die Stadt mit all ihren aufdringlichen Verlockungen. Unsere alte Wohnung, der Verkehr und das Gedränge, der soziale Druck. Nicht zu viel geben, aber auch nicht zu wenig, die goldene Mitte finden, die Wohltemperiertheit, mit der man als angenehmes Wesen empfunden wird. Was einfach ist, wenn das Leben selbst angenehm und vorhersagbar ist, aber unmöglich war, als es so schlecht stand zwischen Gard und mir. Dieses Gefühl, als ich mit meinen Bekenntnissen zu weit gegangen war, keine Nachfragen kamen, wie mich das zerfraß. Alida, die Unbekannte mit nach Hause brachte, aus der Schule, vom Tanzen, von der Straße. Die Dunkelheit draußen und all die Geräusche, die ich plötzlich wahrnahm, nachdem Gard ausgezogen war. So wie alles Schöne noch prachtvoller wirkt, wenn man glücklich ist, trat nun alles Hässliche hervor, die schmutzigen Details im Stadtbild, das Kleinliche in den Beziehungen, die Selbstverachtung. Keine romantisch verklärte Vorstellung vom Leben auf dem Lande hat uns hierher geführt, sondern der bloße Drang zu überleben. Nein, nicht überleben. Leben.
„Hier ist es wie in einem Aquarium, Mama, wir können die ganze Wohnung mit Wasser füllen“, sagt Alida.
Ich lege ihr die Arme um die Schultern, antworte, dass eines so sicher sei wie das Amen in der Kirche, dass wir es hier so gut haben werden wie Fische im Wasser. Gardinen, notiere ich auf der To-do-Liste, wir brauchen bestimmt zwanzig Meter Stoff, um alles zuzuhängen. Der Schnee draußen, das Tageslicht, die großen Fenster. Weiß getünchte Wände ohne Erfahrungen, Erinnerungen. Hier hat niemand geschrien Ich halte das nicht mehr aus, ich will dieses Leben nicht. Wir zwinkern einander zu.
„Das ist einer von den Momenten, die für immer in unserem Gedächtnis bleiben werden, dieses Gefühl von Freiheit und great expectations“, sage ich und registriere zu meinem Missfallen diesen feierlichen Ton, in den ich mich oft flüchte. „Verstehst du, was ich meine?“, frage ich.
Sie nickt, aber ihr Blick weicht mir aus. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir wie Fremde sind, dass sie sich verhält wie unterdrückt. Klara sagte, Alida müsse sich trauen, mir gegenüber offen zu sein, sie sei durch Pflichtgefühle gehemmt. Das klang nicht gerade zuversichtlich und als ob die Befreiung bereits in Sicht wäre. Beim Sprechen hat sie sich nach vorn gebeugt und mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte getippt, ließ den Satz im Raum stehen. Seit meiner Entscheidung, ein Kind zu bekommen, habe ich diese Vorstellung in mir gehabt: einen Menschen von Grund auf neu zu erschaffen. Diese ganze Kindessymbolik steht nun im Weg. Die Wunschvorstellung und das Ergebnis gehen weit auseinander, die Mutterfigur, die ich mir ausgedacht hatte, ist nicht gelungen, die Dialoge sind steif, die Charaktere unglaubwürdig, über zu lange Strecken wirken die Beteiligten passiv und lustlos. Alida und ich sind immer noch nicht überzeugend.
Sie geht zu dem Turm aus Kartons, die mit ihrem Namen beschriftet und in einer Ecke aufeinandergestapelt sind, und schnappt sich einen aus der Mitte. „Du musst zuerst den obersten nehmen, sonst kracht doch alles zusammen“, rufe ich und hechte auf sie zu. „Huch“, sage ich, „hast du gehört, wie laut das klang? Das ändert sich, wenn erst einmal unsere Sachen an Ort und Stelle sind, der Schall wird dann besser gedämpft. Findest du nicht auch, Alida, dass es sich angehört hat, als hätte ich geschrien?“, frage ich hektisch, und es gelingt mir, den Karton wieder in den Stapel zurückzupressen.
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, ziehe den obersten Karton zu mir heran und setze ihn vorsichtig auf dem Fußboden ab. Manchmal kommt es mir vor, als sei sie meine Gefangene. Vielleicht, weil wir nur zu zweit sind. Vielleicht, weil ich sie eine Zeitlang aus dem Blick verloren hatte und das jetzt kompensiere. So viel ist geschehen zwischen Gard und mir, als die Scheidung lief. Auch wenn ich mir selbst und anderen gegenüber behauptet habe, Alida sei mir das Allerwichtigste – im Grunde stimmte das gar nicht. Und jetzt sind wir hier: Die ganze Zeit beobachte ich Alida. Und Alida sieht, dass ich sie beobachte [...]