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Andrea Nicolaisen Brun: Verden er tegnet med skjelvende hånd

Norwegisch.

Forlaget Oktober 2023.

221 Seiten.

Das Romandebüt Verden er tegnet med skjelvende hånd (auf Deutsch wörtlich: „Die Welt ist mit zitternder Hand gezeichnet“) ist ein fesselnder Psychothriller mit Near-future-Sci-Fi-Elementen. Erzählt wird aus der Ich-Perspektive die Geschichte der alleinstehenden Psychotherapeutin Paula, einer Frau in den Dreißigern, die sich für einige Zeit auf die einsame Ferienhütte ihrer Familie zurückzieht, was schließ­lich in einer Katastrophe endet.

Der Roman enthält nicht nur zahlreiche einfühlsame und detailgenaue Naturbeschrei-bungen, son­dern ist auch voller Bilder und Metaphern, die den Antagonismus zwischen Natur und Technik, zwischen Nähe und Distanz und letztlich zwischen Leben und Sterben versinnbildlichen. Sowohl in Paulas zahlreichen inneren Monologen als auch in pointierten Dialogen zeigt die Autorin ihr schrift­stellerisches Können. Je weiter Paulas Kontrollverlust voranschreitet, desto stärker wird die Leserin in den Bann dieses beklemmend dichten und packenden Schreibstils gezogen

Übersetzungsprobe

Im Kofferraum lag eine Schrotflinte. Aber ich war nicht mehr sicher, ob ich zum Töten imstande wäre. Meine Quote war erfüllt. Ob andere das auch so sahen? Wahrscheinlich je nachdem, wen man fragte.

      Ich hätte die Reise ausfallen lassen können, das hätte keinerlei Auswirkungen gehabt. Ich war immer allein zum Jagen gefahren. Aber eine Absage wäre verräterisch gewesen. Der Bruch in der jährlichen Routine hätte vielleicht Anlass zu Gerüchten gegeben, dass mich Schuldgefühle plagten. Die Leute wollen reden. Ich fürchtete, dass sie das bereits taten. Die Jagd sollte trotz allem stattfinden. Aber unter den gegebenen Umständen verliefen die Vorbereitungen ohne jede Vorfreude. Dennoch empfand ich Erleichterung, als ich die Stadt, eingefangen im Rückspiegel des Mietwagens, entschwinden sah – ein Gefühl wie beim Abbruch eines anstrengenden Gesprächs.

      Als die Autobahn eine Kurve machte, verschluckte der Spiegel das letzte Hochhaus. Die Straße fraß sich weiter in die Landschaft hinein, und plötzlich durchschoss zwischen schimmernd verglasten Bürogebäuden ein langer Personenzug mein Blickfeld. Wegen der Entfernung zwischen mir und dem Zug entstand für ein paar Sekunden die Illusion, dass wir einander im gleichen Tempo folgten, bevor der schlangenartige Körper – die erloschenen Augen der Lokomotive und die silbrig glänzende Oberfläche – blitzartig mitsamt dem Schienenstrang in der Landschaft verschwand. Von diesen neuen Zügen hatte ich in einer Zeitschrift gelesen, die ein Kollege für das Wartezimmer angeschafft hatte. Es war eines jener populärwissenschaftlichen Magazine voller alter Kamellen oder wilder Zukunftsprognosen für Leser mit echtem Interesse an der Wissenschaft. Der Artikel handelte von den ersten Hochgeschwindigkeitszügen, die in den Sechzigerjahren in Japan entwickelt worden waren, von deren ursprünglichem Beinamen „bullet train“, den sie ihrer Form und ihrer Schnelligkeit verdankten, und schließlich von den neuen Zügen – führerlos und mit Höchstgeschwindigkeiten von über sechshundert Stunden-kilometern. Die Strecken zwischen den größten Städten wurden rasch zur Touristen-attraktion, ich selbst hatte dieses Blindfahrtexperiment bislang vermieden. Aus der Artikelüberschrift wusste ich auch noch den Beinamen der neuen Züge aus japanischer Produktion: „ghost bullet“. Hoffentlich würde sich diese Bezeichnung nicht durchsetzen.

      Aus dem Kofferraum hörte ich einen dumpfen Schlag. Das musste der Rucksack gewesen sein, oder vielleicht die Flinte, die umgefallen war. Das Geräusch ließ mich an Filme denken, in denen Menschen in enge Kofferräume verfrachtet und in den sicheren Tod geschickt wurden. Das verzweifelte Klopfen als Ausdruck der letzten Hoffnung, gerettet zu werden. Ich erinnerte mich, unzählige solcher Szenen gesehen zu haben, und fragte mich: Was ist das Faszinierende an diesem Zustand? Warum ist er in der Kultur zu einer Art „Urszene“ geworden? Vielleicht stand er für die Sehnsucht nach Rückkehr in den Mutterleib, zusammengekauert in Fötushaltung, umgeben von dumpfen Geräuschen und wogenden Bewegungen, und gleichzeitig für die Angst vor dieser Rückwärts-wendung, die möglicherweise zu sehr an den Tod erinnert, als dass sie eine Zuflucht sein könnte. Ich schob diese Gedanken beiseite, sah hinunter auf das Display des Mietwagens und konzentrierte mich darauf, mir die wichtigsten Symbole einzuprägen.

     Doch es gelang mir nicht, mich vom Gedanken an Filme mit der Kofferraum-Urszene abzulenken und von dem Gefühl, jeden Moment könnten irgendwo hinter meinem Rücken weitere Klopfgeräusche ertönen. [...]

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