
„Vollkommenheit entsteht offensichtlich nicht dann, wenn man nichts mehr
hinzuzufügen hat, sondern wenn man nichts mehr wegnehmen kann.“
„Il semble que la perfection soit atteinte non quand il n‘y a plus rien à ajouter,
mais quand il n‘y a plus rien à retrancher.“
Antoine de Saint-Exupéry, Terre des Hommes (1939)







Oriane Jeancourt-Galignani: Hadamar
Französisch.
Grasset 2017.
279 Seiten.
Hadamar ist ein historischer Roman mit stark dokumentarischer Prägung, der im Spätsommer 1945 in Deutschland spielt. Geschildert werden die Erlebnisse des heimkehrenden ehemaligen politischen KZ-Häftlings Franz Müntz, der auf der Suche nach seinem erwachsenen Sohn Kasper auf die Geschichte der Tötungsanstalt Hadamar stößt, die im sogenannten Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten eine tragende Rolle gespielt hat. Franz begegnet der jungen Theresa, die während des Krieges in der Anstalt gearbeitet hat, und dem amerikanischen Kommandanten Wilson Bergstein. Bergstein will aus persönlichen Motiven erreichen, dass Franz, der Journalist ist, einen Artikel über Hadamar schreibt. Bei seinen Recherchen wird Franz mit ungeheuerlichen Vorgängen konfrontiert, und in ihm wächst die Befürchtung, dass sein Sohn darin verstrickt gewesen sein könnte. Schließlich spürt er den von den Amerikanern gesuchten ehemaligen Anstaltsleiter Alfons Klein in seinem Versteck auf.
Die metaphernreiche, poetische Sprache und die literarischen und kulturellen Bezüge stellen das Romangeschehen in einen größeren kulturhistorischen Zusammenhang. Durch zahlreiche Rückblenden und innere Monologe wird die Gedanken- und Gefühlswelt der Protagonisten lebendig. Die Dialoge sind schlicht und pointiert, und es gelingt der Autorin, den unterschiedlichen Persönlichkeiten individuelle Profile zu verleihen.
Hadamar ist ein wichtiges Buch, weil es ein Thema aufgreift, das bisher in der Literatur – auch in Deutschland – viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Es ist aber auch ein spannender und hervorragend flüssig geschriebener Roman, der den Leser in seinen Bann zieht – nicht trotz, sondern gerade wegen seines Tiefgangs.
Die junge französische Schriftstellerin Oriane Jeancourt-Galignani gewann mit diesem Buch, das sie den Toten von Hadamar gewidmet hat, 2017 den Prix de la Closerie des Lilas. Zuvor veröffentlichte sie bereits zwei in Frankreich viel beachtete Romane, Mourir est un art, comme tout le reste (2013) und L’Audience (2014) sowie 2020 den Roman La femme-écrevisse. Sie ist darüber hinaus Chefredakteurin beim französischen Kulturmagazin Transfuge und schreibt auch literaturwissenschaftliche Artikel für andere Magazine. Bisher wurden ihre Werke noch nicht ins Deutsche übertragen.
Übersetzungsprobe
Am Morgen hat der Ascheregen aufgehört. Wälder und Felder treten wieder deutlich hervor, ebenso die auf den Schienen zurückgelassenen zerbombten Waggons. Lange Trecks ziehen über die Landstraßen, Männer, Frauen und Kinder auf der Flucht zu neuen Ruinen. Manche tragen Wehrmachtsmäntel, die über den Boden schleifen, und haben ihre durchlöcherten Hosen mit leeren Patronentaschen zusammengebunden. Andere stecken in Post- oder Bahnuniformen. Regennasser Wollstoff klebt auf feuchter Haut. Die Frauen ziehen Schubkarren mit Säuglingen und Hausrat. Ächzend wälzt sich der Zug voran, knirschend vor Erschöpfung und Hass. Kinder summen, von Müdigkeit benommen, wirre Melodien.
Abseits der großen Menge schleppt sich eine Gruppe in gestreiften Anzügen vorwärts. Zu diesen Ausgezehrten hält man lieber Abstand, doch ihr Schweigen hat man bemerkt. Ein Waldesschweigen. Und aus welchen Wäldern sie kommen, weiß man nur zu gut.
Noch ein Stück weiter hinten trotten etwa hundert Männer in steifen Rot-Kreuz-Hemden die Straße entlang, unter ihnen auch Franz, nicht ganz so geschunden wie die anderen. Er passt seinen Schritt dem seiner Weggefährten an. Wer zurückbleibt oder vorauseilt, macht sich zur Zielscheibe, das hat er in den letzten fünf Jahren gelernt. Gestern hat ihn der Rot-Kreuz-Wagen in Marburg abgesetzt. „Da wohnst du also?“ Auf die Frage der schwedischen Krankenschwestern hat er genickt. Wozu erklären, dass er aus einer anderen, etwas weiter entfernten Stadt kommt? Lügendorf hätte ihnen sowieso nichts gesagt. Wozu bekennen, dass für ihn diese Gegend aus Regen, Hügeln und Fabriken, dieser wabernde Leib zwischen Frankfurt und Köln, nur eine einzige aufgeweichte Ebene ist? Dass Heidelberg mit seinem Akademikerhochmut, Gießen mit seinen Medizinerdivisionen und Kassel mit seiner Juristenarroganz vor seinen Augen zu einem Ganzen verschmelzen, das doch ein Nichts ist? Was hätten sie erwidern sollen? Diese Frauen stellen Fragen, hören zu, notieren geduldig die Berichte, quälen sich damit, ihre Qualen zu verbergen. Wie sollten sie, die nach Seife und gutem Willen duften, begreifen, dass dieses Land im Spätsommer 1945 dazu verdammt ist, sich im inneren Exodus aufzulösen? So viele Menschen sind unterwegs, dass das Land zu einem Sumpf wird. Bombardiert sie alle, sie waren zu schwach!, hätte ihr Anführer in seinem Bunker befohlen. Doch sie ertrinken, ihre Schwäche zieht sich hin. Seit April irrt Franz umher, schläft und isst, wie es gerade kommt, macht einen Bogen um Uniformen.
Schließlich haben ihn die Rot-Kreuz-Schwestern überzeugt, dass er nun gefahrlos nach Hause zurückkehren könne. Dass in Lügendorf wahrscheinlich Kasper auf ihn warten würde. Gestern Abend hat Franz sich eine Scheune zum Übernachten gesucht und sich zwischen zwei übel riechende Männer gelegt, von denen der eine sich an ihn presste und sein Glied an Franz‘ Hüfte rieb, bis dieser ihm einen Kinnhaken verpasste.
Die Menge teilt sich zu beiden Seiten der Straße, zwei amerikanische Jeeps fahren vorbei. Am Steuer sitzen junge Kerle mit Fleischergesichtern. Vor knapp fünf Monaten waren ebensolche Soldaten nach Dachau gekommen, in die Baracken eingedrungen und hatten erklärt, die Häftlinge seien nun frei. War is over for you! Dann verstummten sie und sahen zu, wie Franz und die anderen ihre Peiniger zum Abschied aufknüpften. So wie man Hyänen beim Zerreißen einer Ratte beobachtet, in der erleichterten Gewissheit, selbst einer anderen Spezies anzugehören. Franz spürt die Überlegenheit dieser pausbäckigen, wohlgenährten Männer. Die Empathie einiger weniger, das Unverständnis der meisten. Vor ein paar Jahren noch hätte er versucht, mit ihnen zu reden, sich mit seinem schlechten Englisch zu verständigen. Er hätte ihnen gesagt, welche ihrer Zeitungen er kennt, was er über Texas und New York weiß, dass er auf ihre Stärke zählt. Er hätte sie als Befreier sehen können. Sie hätten nur früher da sein müssen. Heute kommen ihm diese schneidigen Jungs in ihren strammen Uniformen und mit ihren Schiffchen auf dem Kopf vor wie ins Elend katapultierte Kasperpuppen.
Am Rand eines Wäldchens erblickt Franz die Anhöhe von Lügendorf. Schon von Weitem nimmt er die Ruinen wahr, die Häuser ohne Dächer, die Lücken im Grün. [...]
Sofort erkennt Franz die ersten Gebäude wieder. Früher haben hier Müllers und Rosenthals gewohnt. Er hält Ausschau nach der Silhouette von Franziska Rosenthal mit ihrem geschmeidigen Rücken und dem hochgesteckten Haarknoten, wie sie sich hinten im Garten über das Gemüsebeet beugt. Doch da ist niemand. Es ist noch früh. In den Küchen wird jetzt sicher gerade der Kaffee aufgebrüht. Franz geht an den ersten Backsteinfassaden vorbei, die bestickten Gardinen an den Fenstern sind zugezogen. Lügendorf hat es geschafft, seinen kleinbürgerlichen Schein zu wahren, die falsch-bescheidene Architektur der Häuser mit den Eichentüren. Die Sonne brennt bereits. Zwischen zwei Gärten entdeckt Franz neue Freiflächen, die Trümmer sind nur notdürftig beiseitegeräumt. Manche Häuser sind verschwunden, einfach weggerafft, wie Pilze, die am Ende des Herbstes in einem einzigen Augenblick zu Staub zerfallen. Und die Kirche? Er schaut nach oben. Kein Glockenturm erhebt sich mehr über den Dächern. Wahrscheinlich ist auch er zu Staub zerfallen. Einst beherrschten hier die langgestreckten Dächer der Ludwig-Universität den Außenring der Stadt. Doch nur ein Stück Mauer am Rand der Anhöhe ist davon noch übrig, das Wappen darauf sauber durchtrennt. Franz hält sich Richtung Zentrum und biegt in die Goethestraße ein. Es ist stiller als an einem Karfreitag. Auch hier wartet man ab. Wie überall. [...]