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Oriane Jeancourt-Galignani: Hadamar

Französisch.

Grasset 2017.

279 Seiten.

Hadamar ist ein historischer Roman mit stark dokumentarischer Prägung, der im Spätsommer 1945 in Deutschland spielt. Geschildert werden die Erlebnisse des heimkehrenden ehemaligen politischen KZ-Häftlings Franz Müntz, der auf der Suche nach seinem erwachsenen Sohn Kasper auf die Geschichte der Tötungsanstalt Hadamar stößt, die im sogenannten Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten eine tragende Rolle gespielt hat. Franz begegnet der jungen Theresa, die während des Krieges in der Anstalt gearbeitet hat, und dem amerikanischen Kommandanten Wilson Bergstein. Bergstein will aus persönlichen Motiven erreichen, dass Franz, der Journalist ist, einen Artikel über Hadamar schreibt. Bei seinen Recherchen wird Franz mit ungeheu­erlichen Vorgängen konfrontiert, und in ihm wächst die Befürchtung, dass sein Sohn darin verstrickt gewesen sein könnte. Schließlich spürt er den von den Amerikanern gesuchten ehemaligen An­staltsleiter Alfons Klein in seinem Ver­steck auf.

Die metaphernreiche, poetische Sprache und die literarischen und kulturellen Bezüge stellen das Romangeschehen in einen größeren kul­turhistorischen Zusammenhang. Durch zahlreiche Rückblenden und innere Monologe wird die Gedanken- und Gefühlswelt der Protagonisten lebendig. Die Dialoge sind schlicht und pointiert, und es gelingt der Autorin, den unterschiedlichen Persönlichkeiten individuelle Profile zu verleihen.

Hadamar ist ein wichtiges Buch, weil es ein Thema aufgreift, das bisher in der Literatur – auch in Deutschland – viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Es ist aber auch ein spannender und hervorragend flüssig geschriebener Roman, der den Leser in seinen Bann zieht – nicht trotz, sondern gerade wegen seines Tiefgangs.

Die junge französische Schriftstellerin Oriane Jeancourt-Galignani gewann mit diesem Buch, das sie den Toten von Hadamar gewidmet hat, 2017 den Prix de la Closerie des Lilas. Zuvor veröffentlichte sie bereits zwei in Frankreich viel beachtete Ro­mane, Mourir est un art, comme tout le reste (2013) und L’Audience (2014) sowie 2020 den Roman La femme-écrevisse. Sie ist darüber hinaus Chefredakteurin beim französischen Kulturmagazin Transfuge und schreibt auch literaturwissen­schaftliche Artikel für andere Magazine. Bisher wurden ihre Werke noch nicht ins Deutsche übertragen.

Übersetzungsprobe

Am Morgen hat der Ascheregen aufgehört. Wälder und Felder treten wieder deutlich hervor, ebenso die auf den Schienen zurückgebliebenen zerbombten Waggons. Lange Trecks bedecken die Landstraßen, Männer, Frauen und Kinder fliehen den nächsten Ruinen zu. Manche tragen Wehrmachtsmäntel, die über den Boden schleifen, und haben ihre durchlöcherten Hosen mit leeren Patronengürteln zusammengebunden. Andere stecken in Post- oder Eisenbahneruniformen. Regennasser Wollstoff klebt auf feuchter Haut. Die Frauen ziehen Karren mit Säuglingen und Hausrat. Der Zug wälzt sich voran, ächzend vor Erschöpfung und Hass. Kinder summen, benommen vor Müdigkeit, wirre Melodien.

Abseits der großen Menge schleppt sich eine Gruppe in gestreiften Anzügen vorwärts. Zu diesen Ausgezehrten hält man lieber Abstand, doch ihr Schweigen bleibt nicht unbemerkt. Ein Waldesschweigen, sagt man hier. Und aus welchen Wäldern sie kommen, weiß man nur zu gut.

Noch weiter hinten trotten etwa hundert Männer in steifen Rot-Kreuz-Hemden die Straße entlang, unter ihnen auch Franz, der nicht ganz so geschunden aussieht wie die meisten. Er passt seinen Schritt dem der anderen an, denn wer zurückbleibt oder vorauseilt, macht sich zur Zielscheibe, das hat er gelernt in den letzten fünf Jahren. Gestern hat ihn der Rot-Kreuz-Wagen in Marburg abgesetzt. „Da wohnst du also?“ Auf die Frage der schwedischen Krankenschwestern hat er genickt. Wozu erklären, dass er eigentlich aus einer anderen, weiter entfernten Stadt kommt? Lügendorf hätte ihnen sowieso nichts gesagt. Wozu bekennen, dass für ihn diese Gegend aus Regen, Hügeln und Fabriken, die sich zwischen Frankfurt und Köln erstreckt, nichts ist als ein einziges, großes Überschwemmungsgebiet? Dass Heidelberg mit seinem Akademikerhochmut, Gießen mit seinen Medizinerdivisionen und Kassel mit seiner Juristenarroganz in seinen Augen verschmelzen zu einem Ganzen, das doch ein Nichts ist? Was hätten sie erwidern sollen? Diese Krankenschwestern stellen Fragen, hören zu, notieren geduldig die Berichte, quälen sich damit, ihre Qualen zu verbergen. Wie sollten sie, die nach Seife und gutem Willen duften, begreifen, dass dieses Land im Spätsommer 1945 dazu verdammt ist, sich im inneren Exodus aufzulösen? So viele Menschen sind unterwegs, dass das Land davon gluckst. Bombardiert sie alle, sie waren zu schwach!, hätte ihr Anführer in seinem Bunker befohlen. Doch sie verharren in ihrer Schwäche, die sich hinzieht. Seit April irrt Franz umher, schläft und isst, wie es gerade kommt, macht einen Bogen um Uniformen. Die Rot-Kreuz-Schwestern haben ihn schließlich überzeugt, dass er nun gefahrlos nach Hause zurückkehren könne. Dass in Lügendorf wahrscheinlich Kasper auf ihn warte. Gestern Abend hat Franz eine Scheune zum Übernachten gefunden und zwischen zwei übel riechenden Männern gelegen, von denen der eine sich an ihn gepresst und sein Glied an Franz‘ Hüfte gerieben hat, bis dieser ihm einen Kinnhaken verpasste.

 

Die Menge teilt sich zu beiden Seiten der Straße, auf der zwei amerikanische Jeeps vorbeifahren, am Steuer sitzen junge Kerle mit fleischigen Gesichtern. Vor knapp fünf Monaten waren ebensolche Soldaten nach Dachau gekommen und in die Baracken eingedrungen. Die Häftlinge, hatten sie erklärt, seien nun frei. War is over for you! Dann verstummten sie und sahen zu, wie Franz und die anderen ihre Peiniger zum Abschied aufknüpften. So wie man Hyänen beim Zerreißen einer Ratte beobachtet, überzeugt, selbst einer anderen Spezies anzugehören. Franz spürt die Überlegenheit dieser pausbäckigen, wohlgenährten Männer. Die Empathie einiger weniger, die Verständnislosigkeit der meisten. Vor ein paar Jahren noch hätte er versucht, mit ihnen zu reden, in seinem schlechten Englisch hätte er sich verständlich gemacht. Er hätte ihnen gesagt, welche ihrer Zeitungen er kennt, was er über Texas und New York weiß, dass er auf ihre Stärke zählt. Er hätte sie als Befreier sehen können. Sie hätten nur früher da sein müssen. Doch heute kommen ihm diese schneidigen Jungs in ihren strammen Uniformen und mit ihren Schiffchen auf dem Kopf vor wie ins Elend katapultierte Kasperlepuppen.

 

Am Rand eines Wäldchens erblickt Franz die Anhöhe von Lügendorf. Schon aus der Distanz nimmt er die Ruinen wahr, die Häuser ohne Dächer, die Lücken im Grün. Seine Stadt besitzt noch etwa so viel Würde wie ein Mädchen, das bei einer Tanzveranstaltung in eine dunkle Ecke gezerrt und am nächsten Morgen gefunden wird, misshandelt, aber mit unversehrter Frisur. Nach einer Weile sehen alle Orte gleich aus, hat Walter im Lager immer zu ihm gesagt. Und es stimmt, alle Städte, durch die Franz seit seiner Befreiung gekommen ist, sind auf Volksfesten von Männern mit rot-schwarzen Armbinden geschändet worden. Entlang der Straße, die ins Dorf führt, begrüßen die Hofhunde den anbrechenden Tag. Ich bin nie von zu Hause weg gewesen, denkt Franz, als er an dem von zwei Birken gerahmten Ortsschild von Lügendorf vorbeigeht. Er lacht in sich hinein: Die Verhaftung, die Baracke, die Toten, der Gestank der Sterbenden – nichts ist gewesen. Doch tief in seinem Innern hallt dieses ekelhafte Lachen wider. Alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit, hat Walter am Ende gewispert und die gelbe Stirn an den eingefrorenen Ofen gelehnt. Sein Vater war Pfarrer, er konnte aus der Bibel zitieren, aber wen interessierte das dort schon?

 

Sofort erkennt Franz die ersten Gebäude wieder. Früher haben hier Müllers und Rosenthals gewohnt. Er hält Ausschau nach der Silhouette von Franziska Rosenthal mit ihrem geschmeidigen Rücken und dem hochgesteckten Haar, wie sie sich über das Gemüsebeet beugt, hinten im Garten. Doch da ist niemand. Es ist noch früh. In den Küchen wird jetzt sicher gerade der Kaffee aufgebrüht. Franz geht an den ersten Backsteinfassaden vorbei, die bestickten Gardinen an den Fenstern sind zugezogen. Lügendorf hat es geschafft, seinen kleinbürgerlichen Schein zu wahren, diese falsch-bescheidene Architektur der Häuser mit den Eichentüren. Die Sonne brennt bereits. Zwischen zwei Gärten bemerkt Franz neue Freiflächen, die Trümmer sind nur notdürftig beiseitegeräumt. Manche Häuser sind verschwunden, einfach weggefegt, wie Boviste, die am Ende des Herbstes in einem einzigen Augenblick zu Staub zerfallen. Und die Kirche? Er schaut nach oben. Kein Glockenturm erhebt sich mehr über den Dächern. Wahrscheinlich ist auch er zu Staub zerfallen. Einst beherrschten hier die langgestreckten Dächer der Ludwig-Universität den Außenring der Stadt. Doch davon ist bloß noch ein Stück Mauer am Rand der Anhöhe übrig, das Wappen darauf sauber durchtrennt. Franz hält sich Richtung Zentrum und biegt in die Goethestraße ein. Es ist stiller als an einem Karfreitag. Auch hier wartet man ab, wie überall.

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