„Vollkommenheit entsteht offensichtlich nicht dann, wenn man nichts mehr
hinzuzufügen hat, sondern wenn man nichts mehr wegnehmen kann.“
„Il semble que la perfection soit atteinte non quand il n‘y a plus rien à ajouter,
mais quand il n‘y a plus rien à retrancher.“
Antoine de Saint-Exupéry, Terre des Hommes (1939)
Isabelle Marrier: Le reste de sa vie
Französisch.
Flammarion 2014.
142 Seiten.
Le reste de sa vie (deutsch: Der Rest ihres Lebens) ist ein psychologischer Roman mit einer Vielzahl von Thrillerelementen. Geschildert werden die dramatischen Ereignisse eines einzigen Tages aus der Sicht verschiedener Protagonisten. Die 34-jährige Délia, berufstätige Mutter von drei kleinen Kindern, sehnt ihren Erziehungsurlaub herbei. Von tief sitzenden Sehnsüchten erfüllt, von der Mehrfachbelastung überfordert und von ihrem Mann Jérôme enttäuscht, flüchtet sie sich immer mehr in Tagträume, sodass ihr der Alltag zunehmend entgleitet. An ihrem letzten Arbeitstag vergisst sie ihr Baby im Auto, was wegen der herrschenden Hitzewelle dramatische Folgen hat. Die zweite Hauptfigur, der junge Laurent, der sich selbst als ewigen Verlierer sieht und an diesem Tag ein Bewerbungsgespräch in Délias Firma hat, entdeckt das Kind. Der Ausgang für Délia und das Baby bleibt ungewiss.
Die Autorin hat diese Geschichte meisterhaft im Stil eines Thrillers komponiert. Während der Tag seinen Lauf nimmt, erfährt der Leser durch beiläufige Hinweise, dass sich etwas Schreckliches anbahnt (der Wetterbericht meldet 36 Grad für den Nachmittag, der Kindersitz wurde an einem anderen Platz im Auto montiert usw.). Immer wieder kommt es zu Momenten, in denen Délias Fehler entdeckt werden könnte, was jedoch stets vereitelt wird. So baut sich bis zur letzten Seite eine beklemmende Spannung auf, die den Leser in einen regelrechten Sog zieht. Parallel zu der fesselnden Handlung setzen sich die Persönlichkeiten der Figuren, ihre Beweggründe und ihre Vergangenheit Stück für Stück wie bei einem Puzzle zusammen. Dies gelingt durch die wechselnden Perspektiven und Erzählerstimmen, in denen die Gedanken, Erinnerungen und Gefühle der Protagonisten ausgelotet werden. So entsteht für den Leser eine sehr große Nähe zu den Figuren, von denen jede trotz der Kürze des Romans ein unverkennbares Profil erhält.
Charakteristisch für den Stil dieses Buches ist die metaphernreiche Sprache. Darüber hinaus besitzt jede Figur eine ganz eigene Stimme, die nicht nur in den Dialogen, sondern auch in den vielfältig eingesetzten anderen Formen der Figurenrede (innerer Monolog, erlebte Rede, Bewusstseinsstrom) zum Tragen kommt, wodurch eine besonders ausgeprägte Unmittelbarkeit entsteht.
Le reste de sa vie ist der dritte Roman der französischen Autorin Isabelle Marrier, die ihre Bücher zum Teil unter dem Pseudonym Isabelle Pestre veröffentlicht hat. 2017 erschien bei Flammarion En cas d'exposition des personnes und 2019 ihr bisher letzter Titel Le Silence de Sandy Allen. Bisher wurde noch keines ihrer Werke ins Deutsche übertragen.
Übersetzungsprobe
Um sich wieder zu fassen, betrachtet Délia die edelstahlblitzenden und seidenlackierten Fronten der Einrichtung. Geräuschlos schweben die Schubladen auf und zu, jedes Element fügt sich elegant ins Ganze; so würden effiziente Stunden eines erfolgreich gemeisterten Tages dahingleiten. Die Küche war teuer. Mit einem einzigen Gehalt würden sie sich so etwas nicht mehr leisten können.
„Du kannst nicht alles haben“, hat Jérôme ihr immer wieder vorgehalten. „Du willst aufhören zu arbeiten, dir ‘eine Auszeit nehmen‘, wie das in deinen Zeitschriften heißt, weil natürlich einer die Zeche zahlt. Du wirst schon sehen, was es heißt, den Gürtel enger schnallen zu müssen. Und dann komm mir bloß nicht mit Klagen.“
„Mama“, beharrt Flore.
„Ich weiß nicht … Beeil dich mit dem Essen. Welches Frühstück?“
Délia klopft sanft auf Albanes Rücken, sie hat sich erhoben. Die Zeit drängt unaufhaltsam.
„Menno, das weißt du doch.“
„Sag nicht Menno.“
Von jenseits der Wand dringen Geräusche an ihr Ohr, deren Abfolge sie auswendig kennt. Jetzt öffnet er den Kleiderschrank, nimmt einen Anzug heraus, zögert, die Kleiderbügel schlagen gegeneinander. Dann kommt das Hemd. Wenn er nicht das gewünschte findet, ist das ihre Schuld, denn sie ist mit der Wäsche im Rückstand. Sofort sind entschuldigende Worte zur Stelle und steigen in ihrer Kehle hoch. Sie kann seine etwas plumpen Schritte zählen, jetzt müsste er vor der Kommode stehen. Jeden Augenblick wird er die zweite Schublade öffnen.
„Was soll ich denn mitnehmen? Mama!“
„Ja …“
„Wie sieht ein Vitamin aus?“, fragt Éloïse dazwischen, die gerade dabei ist, die kleinen Buchstaben auf der linken Seite der Frühstücksflockenpackung zu entziffern.
Das schlechte Holz der Kommodenschublade knirscht. Das Geräusch kriecht zu ihr hin wie ein Frettchen.
„Menno, das Frühstück von der Erzieherin, ich bin doch heute dran.“
Das hat sie ganz vergessen. Flore muss heute einen Imbiss für die fünf Kinder der „blauen Gruppe“ mitbringen. Wie ein Blitz steht ihr jener Samstagmorgen im September wieder vor Augen. Sie hockte auf einem winzigen Stühlchen im Gruppenraum des Kindergartens, wo die Erzieherin die Eltern versammelt hatte. Draußen auf dem Hof fällt das Licht durch das rote Laub des Ahorns, genau wie in ihrer Kindheit. Ein Strauß aus Scheren mit abgerundeten Spitzen ragt aus einem Kreidebehälter. Die angespitzten Stifte sind nach Farben sortiert, grün zu grün, blau zu blau. In einem Körbchen zählte sie sieben rosafarbene und zwei weiße Radiergummis. Mit resoluter Stimme spricht die Erzieherin über Mittagsschlaf und Ausmalbilder und auch über das Frühstück. Die Kinder sollen es der Reihe nach für ihren Tisch mitbringen, also jeweils für fünf. Mit türkisfarbenen Reißzwecken wurde ein Kalender an eine Korkwand geheftet. Alle Mütter notieren sich die vier Termine, an denen sie im kommenden Jahr beim „Frühstücksdienst“ versuchen werden, einander mit selbst gebackenen Keksen, Karottenstäbchen und Bio-Apfelschnitzen auszustechen. Délia sieht zu, wie die Blätter der Platane im Hof zu Boden schweben. Ihr Terminkalender blieb in der Handtasche. „Pass doch auf“, hält ihr Jérôme zehnmal am Tag vor, „das kann doch nicht so schwer sein. Eins nach dem anderen. Man könnte meinen, du machst das mit Absicht.“
„O mein Liebes, es tut mir so leid! Das habe ich vollkommen vergessen.“
„Mama!“
„Das macht doch nichts. Warte mal, wir finden bestimmt irgendwas. Kekse. Katzenzungen sind auch noch da und Schokotaler. Die Schokotaler sind lecker. Warum weinst du?“
„Die Mutter von Lucie hat Eis mitgebracht …“
„Nächstes Mal … jetzt schaffe ich das nicht. Das mit dem Frühstück passt heute aber auch wirklich schlecht, meine Süße.“
„Du schaffst nie was, Mama!“